Das Videogespräch: Online ist nicht gleich offline
Prof. Klaus Melchers, Leiter der Abteilung Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Ulm, beschäftigt sich seit acht Jahren mit Online-Bewerbungsverfahren und hat dazu zahlreiche Studien durchgeführt. JobLESE hat ihn zu den Chancen und Herausforderungen von Online-Bewerbungsgesprächen befragt.
Das Interview führte Dr. Irving Wolther
Prof. Klaus Melchers: Ganz so einfach ist es nicht. Tatsächlich haben viele Unternehmen erst einmal gezögert, weil im Online-Gespräch der persönliche Kontakt wegfällt, der von vielen Recruitern und Vorgesetzten geschätzt wird, um ein Gespür für die Person zu bekommen. Das macht die Umsetzung vom Bauchgefühl her schwierig. Das Zweite ist die fehlende Vergleichbarkeit, denn meist schaut man beim Zoom-Gespräch am anderen vorbei, was für Bewerber wie für Interviewer gleichermaßen irritierend ist und den Kontakt mit dem Gegenüber erschwert. So schneiden Bewerber im Online-Gespräch durchschnittlich schlechter ab als bei Vor-Ort-Interviews.
Woran liegt das?
Zum einen sind die Bewerber vor der Kamera gehemmter, zum anderen führt das Gefühl, mit dem Bewerber nicht wirklich in Kontakt zu kommen, bei den Interviewern zu einer schlechteren Beurteilung. Sogar wenn ein und die gleiche Interviewsituation beurteilt wird, fällt das Ergebnis schlechter aus, sobald auf Basis einer Aufzeichnung oder einer Videokonferenz entschieden wird. Das heißt, selbst wenn ein Unternehmen einen sehr strukturierten Auswahlprozess mit Interviewleitfaden hat, allen Leuten die gleichen Fragen stellt und sie nach gleichen Maßstäben bewertet, liegt die Hürde beim Zoom-Gespräch etwas höher als im persönlichen Gespräch, und das macht die Übertragbarkeit schwierig.
Das heißt, man sollte persönliche und Online-Gespräche nicht mischen?
Wenn man das Bewerbungsverfahren wirklich fair gestalten will, sollte man Bewerbungsgespräche aus eignungsdiagnostischer Sicht alle per Videokonferenz führen, sobald auch nur mit einem Bewerber ein Online-Gespräch erforderlich ist. Das ist eine schwierige Entscheidung, wenn man Kandidaten hat, die sozusagen um die Ecke wohnen und selbst im Lockdown zum Bewerbungsgespräch erscheinen dürften. Die würden das Unternehmen naheliegenderweise lieber vor Ort kennenlernen und ihren potenziellen Kolleginnen und Kollegen direkt in die Augen schauen.
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der Antworten auf die Frage „Was ist Ihre größte Schwäche?“ zielen darauf ab, sich selbst in ein positives Licht zu rücken. „Ich bin sehr ungeduldig“ oder „Ich bin zu perfektionistisch“ sind typische Aussagen.
Was der Bewerber tun kann, damit der Auswählende das Gefühl hat, besser in Kontakt zu kommen, ist tatsächlich, direkt in die Kamera zu gucken, was aber gleichzeitig dazu führt, dass er selbst nicht so gut in Kontakt kommt. Ich habe schon gesehen, dass Leute ihre Webcam direkt vor den Bildschirm gestellt haben, sodass sie dem Interviewer über den Rand der Webcam direkt in die Augen schauen konnten. Blickkontakt ist aber nicht der einzige relevante Punkt, denn natürlich kommen auch andere Dinge zum Tragen, die bei Videokonferenzen zum Problem werden können.
Zum Beispiel?
Es gibt einzelne Befragungen, die dafür sprechen, dass erschreckend viele Bewerber während des Online-Auswahlverfahrens gestört werden, was sehr stark mit der individuellen Wohnsituation zusammenhängt. Wer sich eine eigene Wohnung leisten kann, ist klar im Vorteil, aber für sozial schwächere Gruppen, die keinen Raum wirklich für sich haben, wird es schwierig. Außerdem wird bei Online-Bewerbungsgesprächen empfohlen, eine neutrale Wand mit wenig Ablenkung als Hintergrund zu wählen, aber es gibt Leute, die haben so eine Wand gar nicht, einfach weil sie so beengt wohnen. All das sind Dinge, die nicht ins Gewicht fallen, wenn man die Bewerber zu sich ins Unternehmen einlädt, die aber im Online-Gespräch Einfluss auf die Entscheidung haben können. Das muss man sich als Personaler immer bewusst machen.
Kann man solche externen Faktoren gezielt ausblenden?
Zu 100 Prozent lässt sich das wohl nicht ausblenden, aber da hängt die Forschung noch ein bisschen hinterher. Jeder von uns hat allerdings schon die Erfahrung gemacht, dass es bei Online-Gesprächen wiederholt zu Störungen gekommen ist und man dann einfach nur genervt war. Für beide Seiten ist das eine Situation, die mehr mit Kontrollverlust zu tun hat, als es bei einem normalen Gespräch der Fall wäre, und wenn dann das Internet nicht immer gleichermaßen gut und man nicht so ungestört ist, wie man es gerne wäre, können sich beide Parteien nicht wirklich davon freimachen.
Prof. Klaus Melchers, Leiter der Abteilung Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Ulm.
„Das Wichtigste ist, dass Sie Fragen stellen, mit denen Sie Informationen gewinnen, die inhaltlich für die Tätigkeit relevant sind. Leider werden viel zu viele schlechte Fragen gestellt.“
Im Prinzip sind im Vorfeld die gleichen Schritte durchzuführen wie für ein persönlich geführtes Gespräch. Daneben müssen Sie versuchen, alles an Störungen zu minimieren, das auf Ihrer Seite auftreten könnte, also das Handy stummschalten, für guten Empfang sorgen, einen anderen Hintergrund wählen als das unaufgeräumte Büro oder Homeoffice, in dem Sie momentan sitzen. Außerdem müssen Sie sicherstellen, dass die rechtlichen Vorgaben eingehalten werden. Am Anfang sind sehr viele Vorstellungsgespräche per Skype oder Zoom geführt worden, wo der Datenschutz nicht ausreichend gewährleistet war. Es gibt aber eine ganze Reihe Anbieter, deren Lösungen mit den deutschen Datenschutzbestimmungen konform sind und auch Professionalität signalisieren.
Ist es sinnvoll und zulässig, Gespräche aufzuzeichnen?
Aus diagnostischer Sicht ist es super, wenn Sie das Gespräch aufzeichnen und dann noch einmal anschauen können, aber aus Datenschutzgründen müssen Sie die Bewerber zumindest darüber informieren und ihre Einwilligung einholen. Außerdem müssen sie sicherstellen, dass die Speicherung und Löschung datenschutzkonform erfolgen. Hier sollte man lieber auf spezialisierte Anbieter für Videokonferenzlösungen zurückgreifen, bei denen der Datenschutz rechtssicher geregelt ist.
Architekten und Bauingenieure arbeiten ja eng in Teams zusammen – auch vor Ort auf der Baustelle. Wie lassen sich die dafür erforderlichen Eigenschaften online feststellen?
Im Interviewkontext sollte man sich typische Situationen überlegen, die zum Beispiel auf der Baustelle, im Ingenieursbüro oder im Kundenkontakt wichtig sind und wo die Bewerber sich in ihrer Lösungskompetenz unterscheiden. Ich würde dann diese potenzielle Konfliktsituation möglichst konkret schildern und fragen: „Wie würden Sie sich verhalten?“ Auf diese Weise erkennt man zum einen, ob der Bewerber eine grundsätzliche Idee davon hat, worauf es in dieser Situation ankommt und welche Strategien er bei der Problemlösung einsetzt. So bekommt man allemal mehr Informationen, als wenn man die Leute nach ihren Stärken und Schwächen fragt oder wo sie in den nächsten fünf Jahren sein wollen. Mit Leuten, die Berufserfahrung haben, lassen sich Situationen ja auch simulieren. So lässt sich sozusagen eine Online-Arbeitsprobe einholen.
Muss ich im Online-Gespräch anders fragen? Mehr?
Nein. Das Wichtigste ist, dass Sie Fragen stellen, mit denen Sie Informationen gewinnen, die inhaltlich für die Tätigkeit relevant sind. Leider werden viel zu viele schlechte Fragen gestellt, und das sowohl online als auch im persönlichen Gespräch. Die Frage „Was ist Ihre größte Schwäche?“ hat wahrscheinlich jeder schon mal gehört, aber die ist für die Personalauswahl einfach völliger Blödsinn, weil 80 Prozent der Antworten wie „Ich bin sehr ungeduldig“ oder „Ich bin zu perfektionistisch“ nur darauf abzielen, sich selbst in ein positives Licht zu rücken.
„Faking passiert an vielen Stellen, sowohl online als auch offline“
Es besteht immer ein gewisses Risiko, dass man sich vom Äußeren blenden lässt bzw. davon, dass jemand erzählt, was er alles Tolles kann. Die Effekte dieses Impression-Managements, aber auch Faktoren wie Attraktivität und andere diskriminierungsanfällige Dinge wirken sich deutlich stärker aus, wenn ich wenig tätigkeitsbezogene Fragen stelle und das Gespräch unstrukturiert hin- und herspringt. In dem Moment, wo ich stärker standardisiere, was ich mache und vermehrt Dinge frage, die für die Tätigkeit tatsächlich relevant sind, kann ich mich davon zwar nicht zu 100 Prozent frei machen, aber ich reduziere den Einfluss deutlich
Was ist mit Faking, also dem Schönen der eigenen Leistungen?
Faking passiert an vielen Stellen, sowohl online als auch offline. Was ich in diesem Zusammenhang ganz interessant finde: Es gibt so genannte „asynchrone Videointerviews“, die eher für die Vorauswahl verwendet werden. Da ist man nicht persönlich mit dem Interviewer verabredet, sondern dieser stellt Fragen im System ein und die Bewerber bekommen eine Woche Zeit, um sich dort einzuloggen und die Fragen per Webcam und Mikrofon zu beantworten. Dabei erhalten sie für jede Antwort eine gewisse Vorbereitungszeit, meist zwischen 30 Sekunden und zwei Minuten. Wir haben beobachtet, dass die Leute, wenn sie mehr Zeit zur Verfügung haben, um nachzudenken, inhaltlich bessere Antworten geben und weniger faken. Die Leute betreiben dann mehr ehrliches Impression-Management, das heißt, sie überlegen, was sie an relevantem Wissen haben, und versuchen es in ihre Antwort einzubauen.
Sind solche asynchronen Interviews der neue Trend?
Es gibt sie erst seit ein paar Jahren, aber sie haben durch Corona größere Verbreitung gefunden, anstelle von Bewerbungsunterlagen oder in Kombination mit einem Test. Allerdings, wie gesagt, eher für die Vorauswahl. Wer es durch diese Vorauswahl geschafft hat, wird dann noch einmal zum persönlichen Gespräch gebeten. In den USA ist das extrem verbreitet, vor allem im Einzelhandel, aber auch in Europa gehen immer mehr Unternehmen dazu über, und zwar auch für anspruchsvolle Tätigkeiten. Manche haben dann noch ein Assessment-Center nachgeschaltet.
Welche weiteren Entwicklungen im Bereich Recruitment wird die Corona-Pandemie verstärken?
Videokonferenzen werden wohl auch nach Corona intensiver verfolgt werden, weil viele Unternehmen, die vorher keine Lust hatten, sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen, durch die Pandemie dazu gezwungen wurden und jetzt besser abschätzen können, worauf sie sich da einlassen. Es gibt eine ganze Reihe von Assessment-Anbietern, die früher Assessment Center nur live durchgeführt haben und jetzt auch als Remote-Lösungen anbieten, mit Rollenspielen oder Präsentationen per Videokonferenz. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass es nach Corona viele Unternehmen gibt, die froh sind, Assessment Center wieder persönlich durchführen zu können.
Welche zusätzlichen Anforderungen werden künftig an Bewerber und Personalverantwortliche gestellt?
Kompetenzen im Bereich Digitalisierung werden zunehmend wichtiger werden, nicht nur dass man von Bewerbern erwartet, dass sie für neue Techniken offen sind und dort auch Dinge routiniert beherrschen, von denen man vor zwei Jahren nicht auf die Idee gekommen wäre, sie von ihnen zu verlangen, sondern auch in Personalabteilungen wird vermehrt die Digitalisierung Einzug halten. Dabei wird man auch stärker darauf schauen müssen, dass sich das Online-Recruiting von der technischen Seite abbilden lässt und es am Ende nicht an den eigenen Serverkapazitäten scheitert.
Headerbild: Jelena / Adobe Stock
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